Drachensteigen

#6 Wortivation: Was ist eigentlich eine Entwicklung?

In der Rubrik „Wortivation“ geht es um alltäglich genutzte Wörter, die unter anderem Licht eine gänzlich andere Bedeutung bekommen. So erhält die Kommunikation mit anderen und mit uns selbst eine neue Perspektive – und vielleicht springt etwas Motivation für Dich heraus! Heute geht es um die Entwicklung, wie in „Selbstentwicklung“ und wieso Kinder sowas nicht brauchen.

War ich nicht gegen Persönlichkeitsentwicklung?

Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag „gegen“ Persönlichkeitsentwicklung geschrieben. Ausgangslage meines Urteils in „Kritik an Persönlichkeitsentwicklung“ war dabei, dass ich – wie allgemein üblich – Persönlichkeitsentwicklung mit Persönlichkeitswachstum gleichgesetzt habe. Es ist üblich als Teil der Entwicklung seiner Persönlichkeit neue Routinen oder Aktivitäten hinzuzufügen (Lesen, Yoga, 5-Uhr-Aufstehen usw.), und genau hier liegt meine Kritik: Wir können nicht ewig „Hinzufügen“ und denken, dass dadurch alles schon ins Reine kommt! Mein Fazit fiel dabei so aus, dass ich für mich diese Entwicklung als Prozess definierte, um das Gewicht aus dem Begriff zu nehmen. Es solle nicht um „Wachstum“ sondern um „Facettenreichtum“ gehen.

Seit April 2020 ist einiges passiert und dieser Beitrag hier, diese Wortivation, zum Thema „Entwicklung“ geistert nun seit einigen Monaten in meinem Kopf herum. Lass mich daher einmal wie üblich einsteigen, und was gäbe es da Besseres als ein gutes altes chinesisches Zitat.

„Achte auf Deine Gedanken! Sie sind der Anfang Deiner Taten.“

Chinesische Weisheit

Im Anfang war der Gedanke

Ganz egal, ob es ein gedachtes Wort oder ein gedachtes Bild ist, der Beginn von etwas, dass mit Intention von uns ausgeht, ist immer ein Gedanke. Als Lebewesen scheinen wir diese Fähigkeit der gedanklich geplanten Handlung naturgemäß zu besitzen, denn andere Lebewesen, wie Hunde oder Raben, besitzen diese Fähigkeit ebenfalls. Doch scheint sich die Effektivität und das Ausmaß insbesondere bei uns Menschen mit dem Heranwachsen zunehmend auszuprägen. Denn ein Baby handelt zwar intuitiv planerisch, wenn es durch Weinen Aufmerksamkeit und (vielleicht) Essen erhält, jedoch kann man ihm nicht unbedingt zutrauen eine mehrmonatige Reise durch verschiedene Länder zu erdenken oder die Konstruktion einer Photovoltaik-Anlage zu entwerfen.

Aus Studien ist bekannt, dass planendes Handeln eine Fähigkeit ist, die wir erlernen. Durch Beobachtung von beispielsweise unseren Eltern, durch strukturiertes Lernen wie Lesen oder durch ausprobieren (Trial & Error) entfalten wir diese Fähigkeit. Irgendwann besitzen wir Handlungsmuster, welche uns helfen bereits Bekanntes effektiver auszuführen.

Solche Muster in gibt es nicht nur im Handeln, sondern auch in unserem Denken, Wahrnehmen, Wünschen, Träumen – schlicht alles, was in unserem Kopf passiert ist durch Muster geprägt.

Wir häufen sie an, bis wir erwachsen sind, und dann gelten wir plötzlich als gesellschaftlich „fertige“ Personen – was im Grunde auch nicht so verkehrt ist, denn aus evolutionärer Perspektive hat es sicherlich einen Vorteil gemeinschaftlich dafür zu sorgen, dass die Anwärter für die Mitgliedschaft der Gesellschaft auch Teil der Gesellschaft werden können.

Die Summe der Muster einer fertigen Person ist dann die Persönlichkeit. Doch wie kommt da die Persönlichkeitsentwicklung oder Entwicklung ins Spiel? War das nicht bereits bis zur „fertigen“ Person alles die „Persönlichkeitsentwicklung“, wenn mit Entwicklung das Wachstum gemeint ist? Wieso machen so viele Erwachsene so etwas? Und wieso gibt es keine Persönlichkeitsentwicklung für Kinder – sie stecken doch mittendrin?!

Was genau ist eine Entwicklung denn jetzt?

Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache definiert Entwicklung auf vier Ebenen:

  1. das Vorwärtsschreiten in einem Prozess
  2. Reifeprozess des Menschen
  3. Bildung, Entstehung
  4. Verbesserung, Schaffung von Dingen der Technik

Alle Ebenen klingen verdächtig nach Wachstum. Was meine ursprüngliche Kritik unterstützt. Denn aus meiner Perspektive sollten wir klar zwischen Wachstum und Entwicklung unterscheiden können. Diese beiden Wörter sind nicht synonym!

Lass mich das Wort „Entwicklung“ einmal auseinander bauen, bevor wir eine neue Definition finden.

„Entwicklung“ besteht aus drei Teilen, Ent-wickl-ung:

  • Ent-: Dabei steht das Präfix „Ent-“ für „Befreien von…“ oder „Wegführen von…“.
  • -wickl-: Der zweite Wortteil „wickl“ kommt vom Verb „wickeln“, was so viel bedeutet, wie „eingerollt sein“, „eingepackt sein“ „festgeschnürt sein“ oder auch „umschlungen sein“.
  • -ung: Das Suffix „-ung“ macht aus dem Verb „wickeln“ das Nomen „Wicklung“. Dadurch gewinnt das Tun eine Kontinuität und aus tun wird eine Tat: wir wickeln nichts ein, die Wicklung an sich wird betrachtet.

Das Wort aus seinen Bestandteilen heraus, hat nichts mit Wachstum oder Prozessen zu tun. „Entwicklung“ meint eigentlich:

„Entwickeln“ oder „Entwicklung“ ist die Befreiung oder Wegführung von etwas, was das Betroffene umschlingt oder festschnürt.

Für unsere Zwecke aus der Sicht der „Persönlichkeitsentwicklung“ also:

„Entwickeln“ oder „Entwicklung“ ist die Befreiung von etwas, was die betroffene Person in ihrer Persönlichkeit umschlingt oder festschnürrt.

Was nützt das nun?

Unsere Gedanken definieren unsere Realität. Wenn unsere Gedanken zum größten Teil aus Wörtern bestehen, ist es von großer Bedeutung, dass wir die Definition zumindest kennen, wenn nicht selbst für uns formulieren.

Wenn Du mit Persönlichkeitsentwicklung starten möchtest und als erstes anfängst neue Aktivitäten in Dein volles Leben zu integrieren, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Dein Vorhaben scheitern wird. Denn der Tag hat nur 24 Stunden und in der Regel sind wir oder die Medien sehr gut darin diese Zeitspanne mehrfach zu füllen. Wann soll denn dann die halbe Stunde Yoga oder sollen die 50 Seiten aus dem neuen Buch des besonderen Autors eingeplant werden?

Am Anfang der Entwicklung steht nicht die Frage, welche neuen Muster wir aufnehmen wollen. Wir müssen uns viel mehr eine ganze Reihe von Fragen stellen:

Was löst macht uns unzufrieden oder unglücklich?

Welche unserer Muster engen uns ein?

Wie tief sind Gedankenmuster („Glaubenssätze“) und Verhaltensmuster verankert?

Das ist kein 15 Minuten Nachmittagsmeeting mit sich selbst. Sondern ein Prozess, der vielleicht Jahre in Anspruch nimmt. Immerhin geht es um die Analyse all der Dinge, die Du seit Deiner Geburt gelernt hast! Aber es geht auch darum, den Mustern auf den Grund zu gehen, die Du als negativ in Deinem Leben empfindest. Das Ziel dabei sollte sein, sie aus Deinem Leben zu entfernen. Doch das ist nicht einfach, denn diese Muster sind Bestandteil unseres Lebens und unseres Selbst. Wir wissen, dass sie nicht gut für uns sind und werden sie trotzdem nur mit Mühe und bewusster Anstrengung los.

Viele Menschen sind damit überfordert und suchen sich Hilfe bei Coaches, was eine gute Idee ist, wenn der Coach seine eigene Entwicklung bereits vollzogen hat. Andere Personen haben Muster, die vielleicht krankhaft oder zu komplex sind, und sie finden deshalb bei Psychologen Hilfe.

Wenn Du Dich dafür entscheidest die Entwicklung selbst anzugehen, dann spreche ich von Selbstentwicklung. Unzählige Ratgeber geben dafür Anleitung. Die Schritte sind in diesem Prozess der Befreiung von unseren Mustern vielleicht von Person zu Person verschieden. Meine persönlich beste Empfehlung:

Fang mit Schreiben an!

Denn nur durch Schreiben, beispielsweise in einem Jounal, kannst Du einen langen Gedanken denken ohne ihn ewig im Kopf zu kreisen. Irgendwann entdeckst Du einen Faden, den Du aufgreifst und Dich von ihm befreist. Und vielleicht schaffst Du es mit der Zeit Dich von diesem Muster zu befreien. So erschaffst Du neue Lebenszeit. Das Schreiben ist hier auch symbolisch für die Selbstreflektion, die dadurch ausgelöst wird. Wenn Du jemand bist, der andere Methoden der strukturierten Selbstreflektion bevorzugt: Go for it! Da Vinci war beispielsweise für sein gezeichnetes reflektieren bekannt.

Für mich persönlich war so ein Muster meine Social Media Sucht. Hier im Blog habe ich an zwei Stellen darüber geschrieben (Wieso Digital Detox keine Lösung ist und Die Sucht nach Neuem). Dass mich der Konsum einengt, war mir klar, doch habe ich nie den Anfang des Fadens entdeckt, und somit steckte ich weiterhin fest. Seit einigen Monaten hat sich das geändert, durch Erkunden meiner Selbst konnte ich „den Anfang“ meines Fadens finden und so die Fessel entwickeln. Wie viele Stunden ich in meinem Leben dazu gewonnen habe, kannst Du Dir ausrechnen, wenn Du Deine eigene Nutzung analysierst.

Egal ob Selbstentwickler oder mit Unterstützung: Nach der Entwicklung folgt die Erfindung. Eine Idee oder Vision von seinem zukünftigen Ich zu haben, ist eine einzigartige Fähigkeit. Ich nenne sie Selbsterfindung. Wenn Du eine Vision von Dir hast, sei es nur ein winziger Traum oder gleich eine komplexe Geschichte, dann kannst Du daran arbeiten, dass Du dorthin wächst. Wie eine Pflanze, die sich aus der starren Hülle ihres Samens befreit (entwickelt) und zur Sonne wächst. Oder, um es mit Laozi zu sagen und um meinen roten Faden der uns umwickelnden Fäden wieder aufzugreifen:

„Was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling.“

Laozi

Und was war jetzt mit den Kindern?

Achja, wieso brauchen Kinder keine Persönlichkeitsentwicklung? Weil sie noch mitten im Prozess stecken, sich die Dinge von ihren Eltern abzugucken, die sie später dann wieder entlernen – nach unserer neuen Definition also- sich von den Mustern ihrer Eltern entwickeln müssen.

Kinder sind vielleicht deshalb so frei und unbefangen, weil sie noch nicht wissen, was sie später wieder entwissen müssen, um sich als Erwachsene wieder frei zu fühlen.

„Die einzigen Geschöpfe, die weit genug entwickelt sind, um reine Liebe auszudrücken, sind Hunde und Kleinkinder.“

Jonny Depp